von Kurt Steinmann / Autor und Forscher …
zur Person :
Kurt Steinmann (08.06.1945 / in Willisau)
Steinmann arbeitete als Mittelschullehrer in Willisau und Reussbühl. Er ist Mitglied bei P.E.N. und bei Autorinnen und Autoren der Schweiz (AdS). Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Förderpreis der Luzerner Literaturförderung (1983), den 1. Preis beim Coop-Kurzgeschichten-Wettbewerb (1985), den Preis der Berner Radiostiftung (1991) und den Werkpreis Pro Helvetia (2003). 2008 machte er durch eine metrische Neuübersetzung der Odyssee auf sich aufmerksam.
In Kuno Müllers bedeutendem Sammelwerk »Die Luzerner Sagen« ist unter der Nr.106 folgender Text abgedruckt:
Vom Enziloch
Das Enziloch ist dem Luzerner Inbegriff eines abgelegenen und verlassenen Ortes. In seiner Höhle hausen unstete Geister aller Art.
Die Gespenster, die dort wohnen, sind dahin verbannt zur Strafe für Untaten, die sie im Leben begangen haben. Vor allem weilen dort die Seelen jener, die zu Lebzeiten Macht oder Reichtum missbrauchten, um Wehrlose und Arme zu unterdrücken. Die Leute aus der Gegend nennen die Verbannten „Talherren“. Wenn des Nachts der Sturm durch die Schluchten zieht und die Bäume stöhnen und ächzen, sagen die Leute: »Sie bringen wieder einen neuen Talherrn.“ – Wenn das Wetter umschlägt und Regen droht, hört man viele Stunden weit vom Enziloch her ein Krachen und Donnern, als ob dort schwere Geschütze gelöst würden. Der Lärm entsteht, weil die Talherren zur Strafe mächtige Felsblöcke aus der Taltiefe heraufstossen müssen und ihnen die Felsblöcke immer wieder unter fürchterlichem Gepolter in die Schlünde zurückfahren. Es gelingt den Talherren nie, die Blöcke bis zur Felshöhe herauf zu bringen, und so dauert das Gepolter, bis endlich das Unwetter hereinbricht.
In Buch 11 der Odyssee erblickt Odysseus im Reich des Todes unter andern Büssern den
Sisyphos (V.593-600).
Wir zitieren die Verse in der Prosaübersetzung von W. Schadewaldt:
Und weiter sah ich den Sisyphos in gewaltigen Schmerzen: wie er mit beiden Armen einen Felsblock, einen ungeheueren, befördern wollte. Ja, und mit Händen und Füssen stemmend, stiess er den Block hinauf auf einen Hügel. Doch wenn er ihn über die Kuppe werfen wollte, so drehte ihn das Übergewicht zurück: von neuem rollte dann der Block, der schamlose, ins Feld hinab. Er aber stiess ihn immer wieder zurück, sich anspannend, und es rann der Schweiss ihm von den Gliedern, und der Staub erhob sich über sein Haupt hinaus.
Sisyphus: ein glücklicher Mensch?
Unter den unzähligen Mythen der griechischen Antike hat sich der Mythos von Sisyphos bis heute im allgemeinen Bewusstsein erhalten. Wer eine sinnlose, nie endende, mühevolle Arbeit zu bewältigen hat, ist ein neuer Sisyphos. So hat sich seinerzeit, wenn ich mich recht erinnere, Bundesrat Stich als Sisyphos gefühlt, weil sein Bemühen, einen ausgeglichenen Staatshaushalt zu erzielen, trotz grosser Anstrengung, regelmässig misslang. Der Mythos von Sisyphos ist an Philosophie Interessierten natürlich aus Camus’ Deutung bekannt. Wenige Schriften haben das Lebensgefühl westeuropäischer Intellektueller der 50-er und 60-er Jahre so geprägt wie „Le mythe de Sisyphe“ (erschienen 1943, auf deutsch als Rowohlt Taschenbuch 1959). Sisyphos muss einen gewaltigen Felsblock den Hang hinaufwälzen, der kurz vor Erreichen des Kammes regelmässig in den Abgrund rollt. „Heutzutage arbeitet der Werktätige sein Leben lang unter gleichen Bedingungen und sein Zustand ist genauso absurd.“ Neben den Entfremdungen der Arbeitsgesellschaft legt der Mythos des Sisyphos eine existentielle Grundbefindlichkeit dar. Camus nennt sie die Erfahrung der Absurdität unseres Daseins. Trotzdem nennt Camus Sisyphos „glücklich“ („il faut s’imaginer Sisyphe heureux“). Und warum? Weil „der ohnmächtige und rebellische Prolet der Götter“ sich während des Abstiegs des ganzen Ausmasses seiner unseligen Lage bewusst wird. „Die niederschmetternden Wahrheiten verlieren an Gewicht, sobald sie erkannt werden.“ Er macht die Prüfung zu seiner alleinigen Angelegenheit, er sagt ja zum Stein, zwar ohne Hoffnung, aber auch befreit vom lastenden Überbau der grausamen Götter, die er, wenn sie denn existieren, verachtet. Sisyphos ist Herr seiner Zeit, Herr über seinen Stein.
Mich hat die Deutung von Camus, seitdem sie mir zum ersten Mal begegnete, nur intellektuell, nie aber existentiell befriedigt. Einem Fabrikarbeiter, der stumpf-monotone Arbeit ohne Aussicht auf Veränderung leisten muss, ist doch wenig geholfen, wenn er die ganze Misere seines Daseins erkennt, sie mit Verachtung straft und sich in sein absurdes Leben schickt. „Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann“. Ich würde anders formulieren: „Es gibt kein Schicksal, das nicht durch den Mut zur Veränderung, durch Rebellion und Widerstand, durch Aktivierung des Lebensmutes und Sammlung solidarisch Gesinnter in die Schranken gewiesen werden kann.“
Der Sisyphos-Mythos ist zeitlos. Jeden Menschen, und gerade in seiner zweiten Lebenshälfte, beschleicht doch immer wieder das Gefühl, was er tue, sei sinnlos, endlos, hoffnungslos. Der Stein, den er zu wälzen hat, nimmt dabei die verschiedensten Ausprägungen an, aber es gibt den Stein für jeden, mögen auch die stumpfsinnig - repetitiven Arbeitsformen seltener geworden sein.
Die Sage Vom Enziloch und der in der Odyssee erzählte Mythos von Sisyphos weisen ohne Zweifel Strukturparallelen auf. Die peinvolle Arbeit ist die Strafe für Untaten im diesseitigen Leben. Die Talherren wie Sisyphos müssen mächtige Felsblöcke aus der Tiefe auf eine Höhe hinaufstossen und die Versuche scheitern stets.
Daneben sind auch die Unterschiede evident: Die Sage des Hinterlandes spricht von mehreren Steinwälzern, die Odyssee von einem, dem sie einen Namen gibt (die Talherren bleiben anonym). Die Luzerner Version versucht ein meteorologisches Geschehen zu deuten (aetiologische Sage), der Mythos weist in dieser Hinsicht nicht über sich hinaus. Die Sage ist eingebettet im Denk- und Fühlhorizont eines Kollektivs („die Leute“), der Mythos weiß nichts davon. Die Gespenster wohnen in einem geographisch benennbaren, eng abgegrenzten Raum, Sisyphos und die vielen andern Verstorbenen, die sich Odysseus als „eidola“, als Schatten- und Scheinbilder, nähern, hausen im Hades. Das Steinerollen dauert in der Sage nur in der Zeit, die dem Ausbruch des Unwetters vorangeht, in der griechischen Version gibt es keinen Anfang und kein Ende. Die Schuld wird in der Sage als Missbrauch von Macht und Reichtum gegenüber Wehrlosen klar benannt, der Mythos schweigt sich über das Verschulden aus. Aus andern Quellen, deren sich Camus ausgiebig bedient, kennen wir die Vergehen des Sisyphos: Er verriet eine Untat des Zeus – erwirkte dafür aber für seine von ihm gegründete Stadt Korinth ewig fliessendes Quellwasser; er fesselte den Tod für einige Tage – und so war die Sterblichkeit auf Zeit gebannt; er überlistete Persephone – und kehrte wieder auf die Oberwelt zurück. All seine Vergehen stehen im Dienste des Lebens und der Menschen, ähnlich wie bei Prometheus.
Hat der griechische Mythos auf die Hinterländer Sage eingewirkt? Schwer zu sagen, wahrscheinlich nicht. „Im grossen und ganzen enthalten unsere Sagen nicht so sehr etwas Besonderes und Eigenartiges, als vielmehr eine menschlich gemeinsame, weltweite, zeitlose Glaubenshaltung,“ schreibt Kuno Müller im Vorwort seiner Sammlung. Um so grossartiger ist diese Sage des Luzerner Hinterlandes, die dem griechischen Mythos in nichts nachsteht, ja ihn in mancher Hinsicht überbietet. Das Hinterländer Volk zog aus dieser Sage die Genugtuung, dass die mächtigen Herren für ihre Schandtaten dereinst zur Rechenschaft gezogen würden, der bei Homer erzählte Mythos verzichtet auf jede Moral. Aus der Sage wird aber auch deutlich, dass es solche unmenschlichen Talherren gab und dass ihre Zahl immer wieder ergänzt wurde. Das Volk wusste und weiß, dass Macht stets zum Missbrauch neigt.
Der Darstellung der Leiden des Sisyphos unmittelbar voran gehen die Qualen des Tantalus: Tantalus hatte die Götter bestohlen und sie schlimm gefoppt. Zur Strafe wurde er den berühmten Tantalusqualen ausgesetzt: Im Hades steht er in einem Teich; Wasser und Früchte sind ihm nahe, doch unerreichbar. Das Urbild der Frustration.
Wie ist dieser Mythos für uns fruchtbar zu machen? Vielleicht so:
Wie hat Tantalus auf die Qualen reagiert? Wahrscheinlich hat er zuerst rebelliert: Ohnmächtig hat er seine lechzenden Lippen immer wieder dem sich entziehenden Nass genähert und all seine Sehnen gestreckt, um die zurückschnellenden Äste zu packen. Immer wieder das Scheitern. Und Wut und Flüche und Verzweiflung. In einer zweiten Stufe wird er die lockenden Genüsse als belanglos, ja schädlich umgedeutet haben, sein Verlangen als gar nicht so gross. Und Jahre später wird er ganz ruhig werden und sich sagen: Die Früchte, doch, die sind gut, das Wasser ist köstlich, aber ich kann ohne sie leben. Da lassen sein Hunger und sein Durst nach. Auf seinen Zügen leuchtet eine Gelassenheit, die die Götter fürchterlich ärgert. Diese dritte Phase, die macht mir Tantalus lieb.